Awet - ganz weit weg
- willkommendahoam
- 7. Nov. 2015
- 2 Min. Lesezeit
Der Ausnahmezustand ist in meinem Leben mittlerweile Normalität geworden. Wenn Awet bei Freunden auf der Couch einschläft, weil ihre WG-Wohnung der einzige Ort ist, an dem er im Moment ein bisschen entspannen kann, dann bekommt er ein Kissen und wird zugedeckt. Wir anderen drei rücken für den Rest des Films auf dem verbleibenden Stück Sofa zusammen. Diese Nacht wird Awet hier verbringen, wo er sich sicher fühlt. Und ich dann eben auch. Früher hätte ich alles daran gesetzt, auch mitten in der Nacht noch irgendwie nachhause in mein eigenes, wunderbares Bett zu kommen. Nun schlafe ich hier, am anderen Ende der Couch. Lege ihn hin, wenn er aus dem Schlaf aufschreckt und orientierungslos im Zimmer steht. Decke ihn zu. Möglichst viel Sicherheit für einen Jungen, in dessen Leben seit Jahren gar nichts mehr sicher ist. Er wird sich nach dem Aufwachen nicht daran erinnern.
Am nächsten Vormittag sitzt Awet auf der Couch. Mit Kopfhörern im Ohr schaut er Tanz-Videos auf seinem Handy. Sprechen tut er nicht, sein Gesicht ist starr. Noch vor ein paar Monaten wäre ich in einer solchen Situation fast durchgedreht, hätte mir wahnsinnige Sorgen gemacht und (vergeblich) versucht ihn aus diesem Zustand zurück zu holen. Nach elf Monaten mit zehn traumatisierten Jungs, kann mich das nicht mehr aus der Ruhe bringen. Wenn ihnen alles zu viel wird, sie das Leben und den Stress in ihren Seelen nicht mehr aushalten, dann verabschiedet sich ihr Kopf manchmal für einige Zeit.
Wo Awets Kopf an diesem Morgen ist, weiß ich nicht. Vielleicht auf der Farm seines Vaters in Eritrea, barfuß die Kühe zum Melken zusammentreibend. Vielleicht zusammengekrümmt auf dem blanken Boden des Gefängnisses in Libyen. 37 Kilo schwer, den ganzen Körper blutig gekratzt wegen unbehandelter Krätze, unfähig Nahrung aufzunehmen, unfähig auf seinen eigenen Beinen zu stehen. Vielleicht in den Armen seiner Mutter, seiner Vertrauten, seinem Halt – bevor sie vor drei Jahren an Aids verstarb. Er wurde bei der Geburt infiziert; und nie behandelt.
Wenn er bereit dazu ist, kommt er aus diesem Zustand wieder zurück, wie die anderen Buben auch. In der Zwischenzeit sitzt er einfach bei uns. Wir schauen, dass wir etwas zu essen finden, das er herunter bekommt. Er muss etwas im Magen haben, bevor er den allmorgendlichen Tablettenberg schluckt, der ihn am Leben hält. Ansonsten übergibt er sich.
Für zwei Brötchen mit Putenwurst braucht er heute fast eine halbe Stunde, aber er isst. Dann sitzt er wieder einfach nur da. Ab und zu hören wir ihn leise lachen. Er zeigt uns ein lustiges Video. Wir lachen mit ihm.

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