Wie die Jungs auf die beste Schule überhaupt kamen
- willkommendahoam
- 9. Juni 2016
- 12 Min. Lesezeit
"Die Lehrerin hat mich gefragt, was ich machen möchte, wenn ich mit der Schule fertig bin". Und was hast Du geantwortet, Efrem? "Ich habe gesagt, ich möchte perfekt Deutsch können und eine Ausbildung machen, vielleicht als Elektriker - und Fußballprofi werden".
Zur Zeit finden die Einstufungstests fürs nächste Schuljahr statt. Alle zehn Buben nehmen daran teil. Nach den Sommerferien werden sie auf die Schwesterschule ihrer jetzigen "Vorschule" wechseln, in der sie neben viel Deutschunterricht dann alle Fächer haben, die für einen deutschen Schulabschluss Voraussetzung sind.
Dass die Jungs diese Schulen besuchen, ist sicherlich einer der größten Erfolge den ich ich für und mit ihnen errungen habe.
Die Schule kannte ich schon einige Jahre bevor die Jungen in mein Leben kamen. Ich habe dort einmal in der Woche einem syrischen Mädchen Nachhilfe gegeben und bin vom Konzept restlos überzeugt. Die Schule wurde vor mittlerweile über 15 Jahren gegründet und ist eine Ersatzschule für junge Flüchtlinge, auf der sie einen staatlichen Schulabschluss erlangen können. Angefangen als kleines Flüchtlingsprojekt wird die Schule inzwischen von vielen Seiten unterstützt, hat einige Preise gewonnen und ist unglaublich erfolgreich. Sie ist für viele der Jugendlichen nicht nur ein Ort des Lernens, sondern ein Leuchtturm in ihren oft orientierungslosen Leben, ein Ort an dem sie sich geborgen und aufgefangen fühlen, Unterstützung und Hilfe in allen Lebenslagen bekommen.
Viele der jungen Flüchtlinge haben in der Heimat nur wenige Jahre die Schule besucht, manche, wie meine Buben waren ihre halbe Jugend auf der Flucht. In Bayern aber, wo die Schulpflicht mit 16 endet, fallen sie oftmals durchs Raster. Mit Glück erhalten sie einen Platz in einem Deutschkurs, das reicht aber oft nicht, um sie für die Ausbildung fit zu machen. Doch täglicher Unterricht bereitet nicht nur auf das Arbeitsleben vor - er bringt auch Struktur, Regelmäßigkeit und Selbstverantwortung in das Leben junger Menschen, deren Alltag in den letzten Jahren meist vom Kampf ums Überleben diktiert wurde.
Adil hat in Eritrea acht Jahre lang die Schule besucht, bei Efrem, Sami, Mehari, Natu, Meron und Awet waren es sieben Jahre. Yonas ging fünf Jahre zum Unterricht, Filimon und Salman sind noch nie in einer Schule gewesen. Die Gründe, für die kurze Schulzeit sind vielfältig. Salman durfte nicht gehen, weil die Eltern zwingend zur Schulanmeldung notwenig sind, doch Salmans Eltern verließen ihn, als er zwei Jahre alt war. Filimon wuchs ohne Vater in einem winzigen Bergdorf auf, weitab der nächsten Straße. Früh kümmerte er sich um Mutter, Schwester und das Vieh, Schule war nie ein Thema für ihn. Yonas' Familie ist extrem arm, oft gab es nicht genug zu essen. Yonas und sein Bruder mussten schon als Kinder arbeiten, um die Familie am Leben zu halten. Mit elf Jahren wagte Yonas einen Fluchtversuch, wurde aber an der Grenze geschnappt und kam ins Gefängnis. Ist man einmal aus der Schule draußen, gibt es kaum noch einen Weg zurück. Später kam Yonas in eine Spezialeinheit des Militärs, wo sehr junge Buben zu Elitesoldaten ausgebildet werden sollen. Die anderen unterbrachen die Schule aufgrund von Krankheiten, Stress mit den Eltern und Lehrern, oder weil sie zuhause mit anpacken mussten - danach wurden sie nicht mehr zum Unterricht zugelassen. Wer nicht mehr zur Schule geht, kann jederzeit zum Militär eingezogen werden.
Doch es gibt noch ein weiteres Problem: Keiner war wirklich motiviert sich in der Schule anzustrengen, denn eine Zukunftsaussicht im Sinne von Ausbildung oder Studium gab es für keinen von ihnen jemals: Die Zukunft war Militärdienst auf unbestimmte Zeit.
Das Ziel: Die beste Schule der Welt
Als ich die Jungen im November 2014 kennen lernte, war mir schnell klar: Ich möchte, dass diese Jungen, diese Schule besuchen können. Ich wusste, dass das ihre große Chance wäre. Die Chance auf ein Leben. Ich wusste aber auch, dass es kaum möglich sein würde, sie dort unterzubringen. Die Schule war schon in den Jahren zuvor heiß umkämpft, da sie eine der wenigen Schulen ist, auf der junge Flüchtlinge zu einem staatlichen Schulabschluss geführt werden. Zudem wird sich dort mit einem unglaublichen Engagement um fast alle Belange der Schüler gekümmert und die Jugendlichen auch nach dem Schulabschluss noch durch die Ausbildungszeit begleitet. Die Anmeldungen für die Schule übertrafen seit Jahren die Schulplätze um ein Vielfaches, doch "meine" Jungs hatten einen weiteren, entscheidenden Nachteil: Da sie alle als volljährig registriert worden waren, obwohl das in einigen Fällen falsch war, lebten sie nicht in Jugendhilfe-Einrichtungen, die den größten Teil der Schüler stellen.
Zwei Jahre bevor die Jungen nach Deutschland kamen, eröffnete die Schule einen Ableger, eine Art Vorschule auf der junge Flüchtlinge ohne jegliche Deutschkenntnisse und Analphabeten ein Jahr lang auf den Besuch der anderen Schule vorbereitet werden. Auf diese Vorschule hatte ich meine Auge geworfen, dorthin sollten meine Jungs gehen. Für die andere Schule sprachen sie nicht gut genug Deutsch und auch ansonsten schien mir ihr Wissenstand in vielen Dingen zu gering - doch diese Vorschule wäre genau das Richtige für sie. Und so begann ich, wenige Wochen nach ihrer Ankunft in Deutschland, der Rektorin der Vorschule Emails zu schreiben und um die Aufnahme der ursprünglich acht Jungen zu bitten. Sie antwortete mir freundlich, aber auch klar: Der Unterricht hätte bereits im September begonnen, die Schüler sprächen inzwischen schon Deutsch, meine Jungen könnten also nicht mithalten und überhaupt wären keine Plätze mehr frei. Ich solle es doch zum nächsten Schuljahr wieder versuchen.
Die nächsten Monate verliefen für die Buben weitgehend struktur- und beschäftigungslos. Sie hingen auf ihren Betten herum, starrten die weißen Wände des Containers an und hatten viel zu viel Zeit die furchtbaren Bilder in ihren Köpfen wieder und wieder abzuspielen. Mit Glück und viel Kampfgeist ergatterten wir Plätze in einem Deutschkurs, den sie drei Monate lang dreimal in der Woche für wenige Stunden besuchten. Als dieser zu Ende ging, überzeugte ich die Chefin der Einrichtung, dass es ein Wahnsinn wäre, die Jungen drei Monate lang zu unterrichten und dann ins Nichts zu entlassen. Die Chance auf einen Schulbesuch wäre erst fünf Monate später, im September, wieder gegeben. Bis dahin hätten sie die mühsam erlernten Deutschkenntnisse längst schon wieder vergessen. Die Dame, eine wunderbar patente Frau, stimmte mir zu und boxte bei ihrer Einrichtung extra für meine und ein paar weitere Jungs einen Anschlusskurs durch, der drei Monate später begann und genau zum Beginn des neuen Schuljahres endete.
Die Jungs ließ ich immer im Glauben, dass im September die richtige Schule beginnen würde und sie deshalb ordentlich Deutsch lernen sollten - wie ich sie allerdings alle in einer Schule unterbringen sollte, war mir schleierhaft und verursachte regelmäßige Panikattacken. Denn ohne Perspektive, Bildung und täglicher Beschäftigung würden die Jungen in der allumfassenden Langeweile des 10-Quadratmeter-Container-Lebens komplett eingehen, das war offensichtlich. Zu diesem Zeitpunkt aber erreichten mehrere hundert Flüchtlinge pro Tag die Stadt, und nicht nur die Unterkünfte, auch die Schulen und Deutschkurse waren völlig überlastet. Selbst minderjährige Flüchtlinge in der Jugendhilfe bekamen nur noch in den seltensten Fällen einen Schulplatz. Ich sah unsere Felle endgültig davon schwimmen. Aber da waren die Buben und da war der Traum in meinem Kopf, sie alle auf dieser Schule zu wissen. Inzwischen war Efrem zu der Gruppe gestoßen und ich begann von Neuem die Rektorin der Vorschule mit Emails zu bombardieren und um die Aufnahme der mittlerweile neun Jungen zu bitten. Sie antwortete verständnisvoll, aber ablehnend. Die Plätze für den Einstufungstest wären voll, die Warteliste lang und schon jetzt kämen viel mehr Jugendliche zum Test, als sie Schulplätze anbieten konnte. Ich antwortete ebenso verständnisvoll, dass mir die derzeitige Situation schmerzlich bewusst wäre, ich aber leider auf die Aufnahme der Jungen bestehen müsse.
So ging das einige Wochen. Wir schrieben verständnisvolle Email um verständnisvolle Email. Ich war verzweifelt, die Rektorin wahrscheinlich auch. Dann waren die Einstufungstests für alle Flüchtlingsklassen, -Lernprojekte und -Schulen in unserer Stadt noch wenige Tage entfernt. Die Einladungen kamen. Natu und Mehari wurden zum Test in einer Berufsschule eingeladen, Filimon und Efrem zum Test in meiner Wunschschule. Die anderen fünf gingen leer aus - was ein weiteres Jahr ohne jegliche Beschulung bedeutet hätte. Ich schrieb wieder eine Email, bedankte mich für die Einladung von Efrem und Filimon und bat um weitere Einladungen für die anderen sieben.
Hölle und Himmel
Am Montagmorgen, zwei Tage vor dem Test, resignierte die Rektorin schließlich und schrieb: Es wäre in Ordnung, wenn ich alle neun Jungen zum Test brächte. Ich solle mir aber keine Hoffnungen machen. Nur ein geringer Teil der getesteten Jugendlichen würde einen der begehrten 70 Schulplätze erhalten. Ich war trotzdem glücklich. In den nächsten Stunden schärfte ich den Buben ein, dass dieser Mittwoch der wichtigste Tag überhaupt wäre und dass sie es alle schaffen müssten, morgens um sechs aufzustehen und pünktlich zu diesem Test zu erscheinen. Ich rief die nette Sozialarbeiterin der Unterkunft an, um ihr meinen Erfolg mitzuteilen. Sie freute sich sehr.
Am Dienstagmorgen rief mich die nette Sozialarbeiterin dann ihrerseits an: "Hallo", sagte sie, "wir haben ein Problem. Verdacht auf Masern, die Unterkunft ist unter Quarantäne. Zwar dürfen die Bewohner das Camp ganz normal verlassen, S-Bahn fahren und sich in der Stadt aufhalten - Schulgebäude betreten dürfen sie aber nicht." Der Test fand am nächsten Tag in einem Schulgebäude statt. Einen Ersatztermin gab es nicht, kamen doch zum Haupttermin doch schon viel zu viele Bewerber. Ich stand in Flammen, die Jungs waren am Boden. Ich informierte die Schule, die hatten keine Lösung. Die Jungen bestanden darauf trotzdem zu gehen. Andere Jungen in der Unterkunft, die ebenfalls eingeladen waren, wurden über die masernbedingte Absage nicht informiert, würden also auch gehen. Warum sollten sie bestraft werden, nur weil die Sozialarbeiterin mich angerufen hatte?
Am Dienstagabend rief die Sozialarbeiterin wieder an, es gäbe ein Schlupfloch: Alle Jugendlichen, die in ihrer Heimat gegen Masern geimpft worden waren, könnten am Test teilnehmen. Prüfbar war das nicht, denn mit Impfausweis war keiner eingereist. Ich informierte die Buben und übersetzte Masern auf Tigrinya, "Nifyo". Wer dagegen geimpft wäre, fragte ich. Alle meldeten sich. Alle grinsten. Ich sagte, ich käme am nächsten Morgen wieder.
Mittwochmorgen um sechs Uhr stand ich im Container und schmiss neun Jungen aus ihren Betten. Pünktlich um sieben marschierten wir zur S-Bahn. Die S-Bahn ist die einzige Möglichkeit aus dem Vorort der Jungen in die Stadt zu kommen. An diesem Morgen kam die S-Bahn nicht. Nach Monaten des Email-Kämpfens, nach Absagen, Zusagen und Masern-Panik sah es so aus, als ob wir den Test verpassen würden, weil die öffentlichen Verkehrsmittel versagten. Wir warteten und warteten und warteten. 26 Minuten vor Testbeginn kam dann doch noch eine S-Bahn - 22 Minuten würde sie bis zum Hauptbahnhof benötigen. Vier Minuten vor Testbeginn rannten neun Jungen und ich durch den Bahnhof gen Schule und trafen auf die Minute pünktlich zum Test ein. Ich schob die Buben durch die Tür und sank auf die Treppe.
Nach dem Test zeigten die Jungen zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Deutschland Zeichen von Hoffnung: Die Schule sei toll, die Lehrer sehr nett gewesen. Dort wollten sie hingehen. Sie waren voller Freude und Überzeugung ab September Schüler dieser Schule zu sein und freuten sich darauf. Was sie nicht wussten war, dass die Chancen darauf, nicht all zu gut waren. Ich sagte ihnen das auch nicht, denn für mich war klar: Würden sie nicht aufgenommen werden, würde ein weiterer verständnisvoll-freundlicher Email-Kampf beginnen.
Die nächsten Wochen waren die Jungen entspannt, ich hingegen saß auf glühenden Kohlen. In Endlosschleife malte ich mir aus, wie es wäre wenn die Zu- oder Absagen kämen, hoffte auf möglichst viele Zusagen, um nicht all zu viele Buben hineinkämpfen zu müssen, formulierte in Gedanken schon mal Kampf-Emails. Da die Jungs nichts von meiner grenzenlosen Anspannung wussten, erfuhr ich von den Zusagen erst Tage, nachdem sie per Post bei den Jungen eingetroffen waren. "Übrigens", meinte Sami mitten in einem Gespräch zu mir, "da ist so ein Brief von unserer Schule gekommen". Waaaaaaaaaas? Wann denn? "Keine Ahnung, so vor drei Tagen vielleicht". Und was steht drin? "Keine Ahnung, ich kann kein Deutsch. Ich glaube ich soll am 15. September um 8:30 Uhr irgendwo hinkommen". Eine Zusage! Haben die anderen auch so einen Brief erhalten? "Keine Ahnung". Schnappatmung, hyperventilieren, ein Anruf bei Meron im Container: Hast du einen Brief von der Schule bekommen? "Ja". Steht da was von 15. September? "Ja". Hat sonst noch jemand so einen Brief bekommen? "Keine Ahnung, ich frag mal Natu und Adil - ja, die haben auch welche".
Nach weiteren Tagen kristallisierte sich heraus, dass wohl alle neun Buben eine Zusage bekommen hatten - ich schwebte im siebten Himmel. Bis Yonas mich zwei, drei Wochen später auf den Boden der Tatsachen zurück holte: "Warum dürfen alle in die Schule und ich nicht?". Wie bitte? "Alle haben einen Brief, ich nicht". Bist du dir sicher, dass du keinen bekommen hast? "Keine Ahnung, ich dachte, ich hätte einen, aber ich habe alles durchsucht. Ich habe keinen". Zu diesem Zeitpunkt konnte Yonas unsere Schrift noch nicht besonders gut lesen und Deutsch sprach er so gut wie gar nicht. Ich hielt ihm den farbigen Briefkopf der anderen Briefe unter die Nase, fragte, ob er sich daran erinnern könnte. Wir stellten seinen Container auf den Kopf, durchsuchten alle Papiere, doch es blieb dabei: Yonas hatte keinen Brief. Nun kam doch noch meine vor Monaten in Gedanken vorgefertigte Kampf-Mail zum Einsatz, die von der Rektorin sofort entschärft wurde: Yonas stand definitiv auf der Liste der Schüler fürs nächste Schuljahr. Endlich war alles gut.
So wirklich fassen konnte ich das nicht. Mehrere tausend minderjährige Flüchtlinge kamen in dieser Zeit in der Stadt an, und wir hatten tatsächlich 9 von 70 Schulplätzen auf der besten Schule überhaupt erhalten. Es war zu schön um wahr zu sein.
Awet und der zehnte Schulplatz
Doch wer aufmerksam liest, dem dürfte aufgefallen sein: Die Gruppe besteht zum heutigen Zeitpunkt aus zehn Buben. Neun hatten einen Schulplatz, wo also war der zehnte?
Awet verbrachte nach seiner Ankunft viele Monate im Krankenhaus. Er war totkrank, dass er überlebte ein großes Glück. Zum Zeitpunkt des Aufnahmetests war er wieder in der Klinik, Operation am offenen Schädel. Doch im Sommer wurde Awet endgültig aus dem Krankenhaus entlassen - sein Kopf heilte gut und er hatte von 37 auf 50 Kilo zugenommen. Wir kämpften ihn aus der Erstaufnahmeeinrichtung heraus und in ein Einzelzimmer mit eigener Küche und Toilette hinein, um die Ansteckungsgefahr so gering wie möglich zu halten.
Zum Schuljahresbeginn war Awet stabil genug und voller Tatendrang endlich sein Leben wieder aufzunehmen- wäre da nicht der kleine Schönheitsfehler, dass sein Cousin Yonas und die anderen acht Jungen in eine tolle Schule gingen, er selbst aber nicht. Auch die Anmeldungen für die Deutschkurse waren zu dem Zeitpunkt gelaufen. Awet sprach nach knapp einem Jahr noch kaum ein Wort Deutsch, da er die meiste Zeit im Krankenhaus verbracht hatte - von dort brachte er einzig "Guten Morgen" und "Guten Appetit" mit und war dementsprechend frustriert, weil er sich nicht verständigen konnte.
Awet also war verständlicherweise frustriert und ich in der Zwickmühle. Klar war, dass Awet schnellstmöglich irgendeine Art von Unterricht brauchte, doch irgendeine Art von Unterricht war mir nicht genug. Neun Jungs auf der besten Schule und einen in einem Deutschkurs - das fühlte sich nicht richtig an. Gerade Awet, der lange davon ausging sterben zu müssen, brauchte eine Zukunftsperspektive. Andererseits sollte man das Glück bekanntlich nicht überstrapazieren und das die wunderbare Rektorin alle neun Jungen aufgenommen hatte, war ja schon der absolute Wahnsinn. Was also tun? Neue Kampfmails an sämtliche Projekte der Stadt schicken oder die Rektorin nochmals kontaktieren? Ich wusste, dass die Schule wenige Wochen nach Schuljahresbeginn noch einige Schüler nachträglich aufnehmen würde, um die Plätze derer zu füllen, die nicht erschienen waren. Also tat ich beides. Ich schickte Mails an sämtliche Projekte und schrieb noch einmal der Rektorin. Diese zeigte sich verständnisvoll und setzte Awet auf die ellenlange Warteliste.
Dann kam eine Einladung zum Einstufungstest eines Deutschkurses. Was tun? Annehmen oder auf die winzige Chance eines Nachrückerplatzes zu warten? Der Rektorin konnte ich nicht mehr schreiben, ihr Nerven hatte ich in den vergangenen Monaten zu Genüge strapaziert.
Und nun folgt der Teil, von dem ich hoffe, dass die Rektorin ihn niemals lesen wird. Sie würde mich im Nachhinein verfluchen; und das völlig zurecht:
Auf einer Tramfahrt kam mir plötzlich die zündende Idee. Ich bestellte Awet ein und bat Meron, Sami und Adil zu übersetzen: Awet, sagte ich. Du willst doch unbedingt auf diese Schule, oder? "Ja, toooooo much", antwortete er. Okay, hier ist der Plan: Du gehst jetzt jeden Morgen um neun Uhr mit deinem Rucksack in das Sekretariat der Schule und sagst, dass du unbedingt auf diese Schule willst. Es gibt für dich keine andere Option, nur diese Schule. "Okay", antwortete er, "das mache ich". Sie werden dich wegschicken und sagen, dass du nicht mehr kommen sollst, aber du gehst trotzdem wieder. Jeden Morgen um neun Uhr. "Okay, ich gehe", meinte Awet. Und du bist nicht traurig, wenn sie dich wegschicken, okay? "Okay". Vier Wochen, meinte ein Freund, dem ich von diesem Plan erzählte. Länger als vier Wochen werden die keinen Jungen wegschicken, der täglich kommt und sagt, dass er unbedingt auf diese Schule muss. Ich hoffte, dass er Recht behalten würde.
Dann flog ich für einige Wochen zum Arbeiten nach Italien - und Awet begann morgens in die Schule zu marschieren.
Am Montagmorgen ging er mit Sami, Efrem, Salman und Natu in die Klasse. Die Lehrerin meinte, er dürfe einen Tag bleiben, solle dann aber nicht wieder kommen. Ich bat die anderen Jungen, Awet das Sekretariat zu zeigen.
Am Dienstagmorgen landete Awet im Sekretariat. Man gab ihm die Telefonnummer der Koordinatorin für Schulplätze in unserer Stadt und bat ihn, nicht mehr zu kommen.
Am Mittwochmorgen sicherte ihm die Schulsekretärin zu, ihn auf die Warteliste zu setzen. Zu diesem Zeitpunkt dürfte sie gesehen haben, dass er dort schon stand.
Als ich Awet am Donnerstag anrief, erzählte er mir, er habe einen Test am nächsten Tag. Er schickte mir ein Foto von einem Zettel mit Datum und Uhrzeit.
Am Freitagmorgen hatte Awet den Einstufungstest und war damit aufgenommen.
Ab dem folgenden Montag besuchte Awet regulär den Unterricht. Als ich aus Italien zurückkehrte, hatte ich zehn Buben in der besten Schule überhaupt.
Nun ist das Schuljahr fast zuende und alle zehn Jungen sind noch immer auf der Schule. Ein riesiger Erfolg. Nach den Sommerferien werden sie auf die andere Schule wechseln und auf ihren Schulabschluss hinarbeiten. Die Jungen, die völlig ohne Träume in Deutschland ankamen, fangen an von einer Zukunft zu träumen.
Awet, wie war der Test heute? "Gut. Sie haben mich gefragt was ich werden möchte". Und was hast du geantwortet? "Automechaniker!" Wirklich? Ich dachte du möchtest Farmer werden - und Brunnenbauer. Er lacht. "Drei Sachen auf einmal ist ein bisschen viel, oder? Erst werde ich Automechaniker, dann Farmer und dann Brunnenbauer. Guter Plan?" Super Plan.

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