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Mensch sein - Kleidung

  • willkommendahoam
  • 17. Okt. 2017
  • 5 Min. Lesezeit

Was benötigt man, um sich selber als Mensch wahrzunehmen?

Immer wieder höre und lese ich, Flüchtlinge sollen doch froh sein, dass sie in Sicherheit sind und ein Dach über dem Kopf haben. Aber genügt das tatsächlich? Ist das alles was wir Menschen brauchen? Was gehört zu einem menschenwürdigen Leben? Wie wird man von anderen als Mensch respektiert? Was braucht man, um sich selber als Mensch zu fühlen?

In den drei Jahren in der Flüchtlingsarbeit und mit den Jungs, habe ich gesehen, welch große Rolle das Thema Kleidung spielt. Ein Thema, über das wir uns in dieser Form wenig Gedanken machen. Klar hat man ständig das Gefühl, nichts Passendes im Schrank zu haben. Trotzdem sind unsere Schränke meist gut gefüllt. Wie aber würden wir uns fühlen, wenn wir tatsächlich nichts im Schrank hätten? Wenn da nichts wäre, was wir anziehen könnten?

Die Jungs sind in Europa ohne jegliches Gepäck angekommen. Sie hatten, was sie am Körper trugen, und das war in vielen Fällen eine Hose und ein T-Shirt – nicht ausreichend für europäisches Novemberwetter. Einige kamen ohne Schuhe.

Generell war zu beobachten: Wer über das Mittelmeer kam, hatte meist keinerlei Gepäck dabei. Die Flüchtlinge der Balkanroute kamen oftmals mit einem kleinen Rucksack. Woran lag das?

Flüchtlinge werden in Libyen monatelang in Internierungslagern eingesperrt. Die Bedingungen sind menschenunwürdig. Es gibt kaum Möglichkeiten sich selbst oder Kleidung zu waschen, Krankheiten breiten sich rasant aus und werden nicht behandelt, Hunger und Durst sind an der Tagesordnung, ebenso Schläge, Vergewaltigungen und Folter. Persönliche Gegenstände werden den Insassen meist abgenommen, sei es Schmuck, Kleidung oder Fotos der Familie. Das hat keinen anderen Grund, als die Insassen zu quälen.

Irgendwann werden sie auf die Boote gebracht, im Normalfall besitzen sie zu diesem Zeitpunkt nichts mehr. Wer aber die Bilder der völlig überladenen Boote auf dem Mittelmeer vor Augen hat, dem ist klar: Platz für Gepäck wäre dort sowieso nicht vorhanden.

Die Situation der Flüchtlinge aus Eritrea ist im Bezug auf das Gepäck nochmal eine besondere. Eritrea ist ähnlich wie Nordkorea oder früher die DDR von der Außenwelt abgeschottet, es ist verboten das Land zu verlassen. Auf Flüchtende wird an der Grenze geschossen, wer Flüchtenden hilft, muss mit drakonischen Strafen rechnen. In den Dörfern in Grenznähe werden Fremde daher besonders kritisch beäugt, sie machen sich schon alleine durch ihre Anwesenheit verdächtig. Jegliche Form von Gepäck würde nur ihre Intentionen verraten und wäre außerdem nur im Weg, wenn man beim Versuch des Grenzübertritts durchs Unterholz robbt oder vor den Schüssen der Grenzsoldaten davonläuft. Eritreer flüchten ohne Gepäck, das ist ihre einzige Chance.

Die Flüchtlinge, die über die Türkei und die Balkanroute kamen, nahmen oftmals einen Rucksack mit Wechselkleidung, Dokumenten, benötigten Medikamenten etc. mit auf die Flucht. Viele warfen ihre letzten Besitztümer bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland über Bord, im verzweifelten Versuch die völlig überladenen Schlauchboote vor dem Untergang zu bewahren. Anderen gelang es ihre wenigen Besitztümer zu retten, oder sie bekamen auf ihrem Weg durch Europa mal ein T-Shirt oder eine Jacke geschenkt. Trotzdem waren sie wochenlang unterwegs, schliefen in Bahnhöfen, auf der Straße, im Wald und auf Feldern. Möglichkeiten sich zu waschen gab es kaum, die Kleidung war in entsprechendem Zustand.

Nun vergisst man beim Wort „Flüchtlinge“ leicht, dass diese Menschen wenige Monate zuvor ein normales Leben lebten. Sie hatten Wohnungen, Häuser, Jobs und natürlich Kleidung. Wie wir sind sie nicht in dreckiger Kleidung aus dem Haus gegangen, waren passend angezogen für die Arbeit, den Sport, die Hochzeitsfeier am Wochenende. Sie haben nicht damit gerechnet, alles was ihr Leben ausgemacht hat, von einem auf den anderen Tag zu verlieren und nur mit dem, was sie noch am Körper trugen, durch Europa zu marschieren.

Wenn man von heute auf morgen alles verliert und wochenlang unter freiem Himmel schlafen muss, verliert man dennoch nicht plötzlich jegliches Gefühl für sich selber. Es genügt einem langfristig eben nicht, in Sicherheit zu sein und ein Dach über dem Kopf zu haben. Man ekelt sich auch weiterhin in dreckigen Klamotten und schämt sich, dass man stinkt. Diese Gefühle verschwinden nicht einfach, wenn man vom „Mensch“ zum „Flüchtling“ wird.

Wenn die Leute in unserer provisorischen Erstaufnahme ankamen trugen sie oft seit Wochen die gleiche Kleidung. Wenig überraschend daher ihr erster und sehnlichster Wunsch: zu duschen. Der zweite Wunsch waren saubere Kleider, damit sie nach dem Duschen nicht mehr in die stinkenden, dreckigen Klamotten der Flucht schlüpfen mussten.

Unter dem Schlafsaal hatten wir ein Lager mit gespendeter Kleidung, aus dem jeder Neuankömmling die folgenden Dinge erhielt, sofern ausreichend vorhanden: drei Paar Socken, drei Unterhosen, 1-2 Hosen, 3 T-Shirts und 2 Pullover. Außerdem, wenn möglich: ein Paar Schuhe, eine warme Jacke, Handschuhe, Mütze und Schal. Die Kleiderausgabe erfolgte jeweils an einem einzigen Tag für alle Bewohner, war generalstabsmäßig organisiert und dauerte locker zehn Stunden. Natürlich versuchte man jedem Bewohner möglichst passende Kleidungsstücke heraus zu suchen, aber die Möglichkeiten waren auf das begrenzt, was gespendet wurde.

Anfangs waren die Leute meist einfach erleichtert, überhaupt wieder etwas Frisches zum Anziehen zu haben. Allerdings blieben sie oft tagelang ohne Schuhe und warme Jacken, weil wir schlicht und ergreifend nicht genug hatten. Sie konnten also das Gebäude nicht verlassen. Nach ein paar Tagen des Ankommens und Zur-Ruhe-Kommens wurde dann aber auch klar: Nur weil man durch eine Laune des Schicksals plötzlich sein komplettes Leben verloren hat, verliert man noch lange nicht seine Ansprüche, Überzeugungen, Gewohnheiten. Stellt euch vor, ihr würdet morgen alles verlieren euer Haus, eure Arbeit, eure Heimat – wäre es euch egal von nun an in einer übergroßen Hose, fleckiger Wollweste und ohne Schuhe durch die Innenstadt zu gehen? Oder hättet ihr trotz des massiven Schicksalsschlages noch immer den Wunsch euch ordentlich zu kleiden, anständig auszusehen, nicht aufzufallen?

In unserer Erstaufnahme lebte damals eine junge Syrerin mit zwei kleinen Söhnen. Sie war Psychologieprofessorin an der Universität in Damaskus, hatte ein gutes Leben. Dann wurde ihr Haus zerbombt, ihr Mann getötet und sie fand sich alleine mit zwei kleinen Kindern auf einem Marsch durch Europa wieder. Diese Frau trauerte massiv um ihr verlorenes Leben. Sie kam nur schwer damit zurecht, nicht mehr in ihrer schönen damaskuser Wohnung zu leben, sondern in einem riesigen lauten Schlafsaal mit 200 anderen Menschen und kaum 30 Zentimetern Abstand zum nächsten Feldbett. Eines Abends kam sie zu uns ins Büro und bat flehend um ein paar schöne Kleidungsstücke. Sie wusste, dass wir eigentlich keine Ausnahmen machten, ab es war ihr so wichtig, sich wieder schön anziehen zu können, wie sie es aus ihrem alten Leben gewohnt war.

Ähnlich empfanden viele älteren Herren, die nach und nach zu uns kamen und um Oberhemden baten. Ein Leben lang waren sie nur in Oberhemden aus dem Haus gegangen, die Hemden war ein Teil dessen, was sie als Person ausmachte. Nun fühlten sie sich unwohl und schämten sich, plötzlich in T-Shirts vor die Türe zu gehen. Die Ausgabe von Oberhemden war nicht vorgesehen, da der Einfachheit und Gerechtigkeit halber jeder das Gleiche bekam. Allerdings hatten wir eine große Anzahl gespendeter Oberhemden, sodass dem Wunsch der Herren entsprochen werden konnte. Die Möglichkeit wieder anziehen zu können, was sie ihr ganzes Leben als angemessen empfunden hatten, gab ihnen ein kleines Stückchen Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein zurück.

Kleidung ist ein wichtiger Teil dessen, was uns als Menschen ausmacht. Passende und angemessene Kleidung lässt uns Teil einer Gesellschaft werden, verbindet uns mit anderen Menschen in einem bestimmten Umfeld, sei es auf der Arbeit, in der Stadt oder auf einer Hochzeitsfeier. Kleider machen Leute. Kleider helfen Menschen sich menschlich zu fühlen.

 
 
 

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