Jahresrückblick 2016
- willkommendahoam
- 21. März 2017
- 6 Min. Lesezeit
Viel Zeit ist seit meinem letzten Post vergangen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen öfter zu schreiben, aber der Alltag mit den Jungs lässt oft wenig Zeit.
2016 war ein turbulentes, schwieriges aber in Teilen auch sehr schönes Jahr. Das Beste war sicherlich, dass die Asylanträge aller zehn Buben anerkannt wurden und sie damit eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis und einen Reisepass erhielten. Nachdem sie zunächst München, dann Oberbayern und dann Deutschland nicht verlassen durften, können sie sich nun recht frei in der Welt bewegen. Nur wohnen müssen sie, aufgrund eines neuen Gesetzes, die nächsten drei Jahre in Bayern.
Im Sommer 2016 ging das erste Schuljahr der Jungs in Deutschland zu Ende. Für Salman und Filimon war es das erste Schuljahr in ihrem Leben. Das Jahr ist für die Jungen ganz unterschiedlich verlaufen. Zunächst waren alle wahnsinnig froh einen Schulplatz zu haben. Die unendliche Langeweile im Container hatte ein Ende, der Tag bekam Struktur und endlich ergab sich die Möglichkeit richtig Deutsch zu lernen und damit die Chance, sich in ihrer neuen Heimat besser zu verständigen. Aber der Schulbeginn war auch eine riesige Umstellung und Herausforderung für alle. Manche hatten ja noch nie eine Schule besucht, für alle anderen war es Jahre her, dass sie zur Schule gingen und damit einen so klar strukturierten Tagesablauf hatten und sich täglich über Stunden aufs Lernen konzentrieren mussten.
Manchen fiel es sehr leicht, sich mit dieser großen Herausforderung zu arrangieren. Filimon marschierte vom ersten Tag an mit einer unendlichen Zuverlässigkeit in die Schule, als habe er nie etwas anderes getan. Der stille, ernste Junge entwickelte sich innerhalb weniger Monate zu einem gesprächigen, lauten und lustigen Schüler. Man hatte den Eindruck, als wären Zentner der Last von seinen Schultern gefallen. Eine riesige Überraschung war Sami. Dem fiel das Lernen in den vorangegangenen Deutschkursen ganz schön schwer und ich hatte große Sorgen, wie er in der Schule zurechtkommen würde. Dann bekam er eine Lehrerin die er liebte und deren Unterricht er verstand und plötzlich änderte sich der ganze Bub. Er hörte auf ständig an sich und seinem Kopf zu verzweifeln, ging regelmäßig, arbeitete mit und lernte in wahnsinnigem Tempo Deutsch.
Aber die oft mehrjährige Flucht ist natürlich nicht spurlos an den Jungs vorbeigegangen. Viele haben massive Schlafprobleme, Alpträume und liegen oftmals die ganze Nacht wach, bevor sie in den frühen Morgenstunden völlig erschöpft einschlafen. Dann hören sie ihre Wecker nicht oder sind in der Schule so müde, dass sie im Unterricht einschlafen. Natu ist so ein Kandidat, den, wenn er denn endlich mal eingeschlafen ist, selbst ein Feueralarm nicht aufwecken könnte. Und Salman, der aufgrund seiner besonderen familiären Situation (darüber habe ich in einem anderen Post geschrieben) noch nie mit Strukturen und Regelmäßigkeiten konfrontiert war, fiel es unglaublich schwer, mit dem neuen strukturierten Alltag zurecht zu kommen und jeden Tag zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu sein.
Trotz aller Schwierigkeiten haben alle zehn Jungs das erste Schuljahr geschafft und offizielle Abschlusszeugnisse erhalten. Ich war wahnsinnig stolz auf sie.
Das erste Schuljahr hatten die Buben ja in einer Art Vorschule absolviert. Vor den Sommerferien fanden dann die Einstufungstest für die eigentliche Schule fest. Diese ist unterteilt in Unterstufe, Mittelstufe und Oberstufe, allerdings mit durchlässigen Klassen und extra Einteilung im Matheunterricht, sodass jeder Schüler angepasst an seinen Wissenstand und sein Lerntempo unterrichtet werden kann. Am Ende der Schulzeit stehen dann der Hauptschulabschluss, der Quali oder die Mittlere Reife. Vor den Sommerferien fanden die Einstufungstests für die neue Schule statt. Sami, Adil, Natu und Meron kamen in die Mittelstufe, Awet, Efrem, Yonas, Salman und Filimon in die Unterstufe, Mehari hatte die Vorschule übersprungen und ging von Anfang an auf diese Schule.
Es kamen die Sommerferien und damit eine lange Zeit des Leerlaufs und der Langeweile für die Jungs. Keiner hatte sich wirklich auf die Ferien gefreut, da die Hitze und Enge in den Containern im Sommer kaum zu ertragen ist und es quasi keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt. Viele der Jungen schlitterten über den Sommer in depressive Verstimmungen, einige rutschten leider völlig ab. Efrem hatte zum wiederholten Mal nach Alkoholkonsum einen epileptischen Anfall und kam ins Krankenhaus, Meron und Natu, die von Anfang an recht instabil waren, versanken im Drogensumpf und nahmen leider auch noch Sami mit. Die Sommermonate und der Herbst waren dadurch auch für mich nur sehr schwer zu ertragen. Zu sehen, wie diese Jungs, die mir inzwischen so ans Herz gewachsen sind, immer tiefer abstürzten und trotz aller Hilfsangebote zunächst nicht aus dem Schlamassel herausgezogen werden konnten und wollten, konnte ich kaum aushalten und musste es doch so akzeptieren.
Efrem fing sich nach dem letzten Krampfanfall überraschend selber. Ihm half - wie immer seit ich ihn kenne - der Fußball und der damit verbundene Traum, eines Tages Profi zu werden. Die anderen drei aber befanden sich weiterhin in freiem Fall nach unten.
Dann begann das neue Schuljahr. Mehari, Awet, Filimon und Adil gingen motiviert wie eh und je. Yonas auch, bis sein kleiner Bruder aus Eritrea nach Äthiopien entkam und dringend Geld für die Flucht brauchte. Yonas’ Familie ist bettelarm, hat oftmals nicht einmal genug zu Essen und so war über viele Wochen nicht klar, ob es uns gelingen würde Yonas, der unbedingt arbeiten wollte um das Geld für den kleinen Bruder zu verdienen, in der Schule halten zu können. Es gelang. Efrem startete total motiviert und hatte das Glück in eine Klasse und zu einer Lehrerin zu kommen, die er sehr mochte. Er entwickelte sich ganz wunderbar und schickt mir immer stolz Fotos von seinen Tests auf die er meist Einsen und Zweien erhält. Auch Salman erkannte nach Anfangsschwierigkeiten den Ernst der Lage und es gelingt ihm in diesem Schuljahr schon viel besser als im letzten, regelmäßig in die Schule zu gehen.
Die Sorgenkinder Meron und Natu gingen kaum und wenn dann in verheerendem Zustand zum Unterricht und flogen nach wenigen Wochen von der Schule. Bei Sami wurde mir das Ausmaß seiner Probleme erst richtig bewusst, als die Schule mich darüber informierte, dass auch er ganz kurz vor dem Rausschmiss stand. Und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich erst ein paar weitere Wochen benötigte um zu verstehen, wie tief auch er in die Drogenwelt abgerutscht war. Es waren sehr schwierige Monate für uns alle und es mussten ein paar drastische Dinge geschehen, bevor es wieder bergauf gehen konnte. Aber Ende 2016 waren alle drei clean und auf einem guten Weg.
Ein weiteres großes Drama überschattete 2016. Die Entführung von Efrems kleinen Bruder Denden. Denden floh im Oktober 2015 aus Eritrea und wurde kurz drauf von einem Nomadenstamm gekidnappt. Es ist eine richtige Industrie in der hilflose Flüchtlinge gefangen genommen und nur gegen hohe Lösegelder wieder freikommen. Werden diese Lösegelder nicht schnell genug bezahlt, werden die Opfer entweder in den Sinai verkauft, wo die absolute Hölle auf sie wartet, oder sie werden umgebracht. Über Monate bangten wir um Dendens Leben, hörten ihn am Telefon schreien, während die Entführer Efrem damit drohten seinen Bruder zu töten. Efrem war in diesen Monaten fast wahnsinnig vor Angst. Ich versuchte, auch mit der Hilfe von Freunden, Efrem in dieser Zeit irgendwie über Wasser zu halten, war aber selber oft am Ende meiner Kräfte und fragte mich, wie lange ich das durchhalten könnte und was passieren würde, würde man Denden wirklich töten. Am Ende kam Denden frei, überlebte den Weg durch die Sahara und saß dann monatelang in libyschen Gefängnissen, bevor er sich auf den Weg übers Mittelmeer machte. In den Tagen nach seinem Aufbruch starben knapp 1000 Menschen, über Wochen mussten wir davon ausgehen, dass Denden eines der Opfer war. Doch wieder überlebte er, kam Ende August nach Italien, wo er die letzten sechs Monate verbrachte und ist Ende Februar endlich in Deutschland angekommen. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut, Efrem ist ein anderer Mensch und ich habe einen Schützling mehr.
Soweit der Jahresüberblick für 2016. Auf wichtige Ereignisse des Jahres werde ich in eigenen Posts eingehen. Denn das ist sicherlich einer der Vorsätze für 2017: Regelmäßig schreiben. Es gibt einfach so viel zu erzählen.
Für die Jungs habe ich 2017 als Jahr der Integration erkoren. Sie sind inzwischen ganz gut in Deutschland angekommen und finden sich immer besser in ihrem neuen Leben zurecht. Nun muss noch viel mehr Interaktion mit den Einheimischen stattfinden, da sich ihre Kontakte durch die Unterkunft und die Schule weiterhin hauptsächlich auf Flüchtlinge beschränken.
Ihr habt Ideen? Schreibt mir! (willkommen.dahoam@gmail.com)
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