Die ganze Geschichte
- willkommendahoam
- 20. Nov. 2015
- 5 Min. Lesezeit
In diesem Blog geht es um meine Jungs. Und irgendwie auch um mich. Es geht um das Überleben und das Ankommen in einer völlig fremden Welt. Das ist unsere Geschichte:
"Meine Jungs", das sind Natu, Awet, Mehari, Filimon, Salman, Adil, Yonas, Efrem, Meron und Sami. Seit diese zehn Jungen mich zu ihrer „Mama Germany“, Schwester, Freundin, Vertrauten auserkoren haben, steht mein Leben Kopf. Statt Reisen und die Welt sehen, dreht sich nun alles um Fußball und Folterwunden, Angstattacken und Actionfilme, Skateboard fahren, Selbstzweifel und Sehnsucht nach der Mama, Lehrergespräche, Lebensfragen, Hausaufgaben und ganz, ganz viel Heimweh.
Die Heimat der Buben, Eritrea, gilt als das Nordkorea Afrikas. Abgeschottet vom Rest der Welt, herrscht dort seit 22 Jahren ein Diktator, dessen grausame Politik das Land in den Ruin und die Menschen in die Flucht treibt. Jeder kann jederzeit zu einem Militärdienst eingezogen werden, der oftmals ein Leben lang dauert. Dort werden die Menschen geschlagen und gefoltert, manche kehren nie zurück. Jeder kann jederzeit und ohne Grund auf der Straße verhaftet und unbegrenzt in Gefängnissen festgehalten werden. In unterirdischen Kammern, in fensterlosen Schiffscontainern. Die Familien erfahren nichts über den Verbleib ihrer Söhne und Töchter, ihrer Ehemänner, Brüder, Väter. Nachts kommt die schwarz vermummte Geheimpolizei in die Häuser und holt Menschen gewaltsam ab. An der Grenze herrscht ein Schießbefehl. Ertappte Flüchtende werden erschossen.
Wer keine Schule (mehr) besucht, kann eingezogen werden. Meine Buben gingen zwischen null und sieben Jahren zur Schule. Dann mussten sie aufhören, weil die Familien kein Geld mehr hatten um den Schulbesuch zu bezahlen, sie krank waren oder weil sie auf den Höfen ihrer Eltern helfen, oder Geld verdienen mussten, um die Familien vor dem Verhungern zu retten. Mit dem Ende der Schulzeit begann ein Leben in Angst. Jederzeit und überall mussten die Buben damit rechnen, verhaftet und eingezogen zu werden. Ohne Vorwarnung, ohne Abschied.
Einige der Buben erhielten einen schriftlichen Einzugsbefehl. Ab da schliefen sie jede Nacht in einem anderen Haus, oder auf der Straße. Samis Vater wollte, dass sein Sohn Soldat wird. Sami musste sich daher nicht nur vor der Polizei, sondern auch vor seinem Vater verstecken.
Jayed, Yonas und Efrem wurden eingezogen. Minderjährig. Yonas war in einer Spezialeinheit, die Minderjährige zu Elitesoldaten ausbildet. Efrem versuchte zu entkommen und landete im Gefängnis, wo er Furchtbares erlebte. Adil gelang nach wenigen Monaten die Flucht aus der Armee. Drei Jahre versteckte er sich in den Bergen, auf Bauernhöfen, in Scheunen. Dann schaffte er es über die Landesgrenze.
Zwischen sieben Monaten und drei Jahren dauerte die Flucht der zehn Jungen von Eritrea nach Deutschland. In Äthiopien kamen sie in Camps, im Sudan und Ägypten ins Gefängnis.
Sie sahen ihre Freunde in der Sahara sterben und waren selbst mal wieder dem Tod ganz nah. In Libyen dann wieder im Gefängnis, über Monate. Sie wurden geschlagen, gedemütigt, gefoltert und gequält. Man ließ sie fast verhungern. Als sie in Deutschland ankamen, waren ihre Wangen eingefallen. Awet wog bei einer Größe von 1,64 m noch 37 Kilo.
Auf die Boote nach Europa kommt man erst, wenn man sich aus zwei libyschen Gefängnissen freigekauft hat. Bei circa 1600 Euro liegt der Preis für ein Menschenleben. Pro Junge; pro Gefängnis.
Bis zu 10.000 Euro haben die Familien gezahlt, um das Leben ihrer Kinder zu retten und sie in Sicherheit zu bringen. Abhängig davon, wie oft die Jungen erwischt wurden und freigekauft werden mussten. Das Durchschnittseinkommen in Eritrea liegt bei 600 Euro; im Jahr. Die Familien sind daher ruiniert. Samis allein erziehende Mama ging nach Saudi-Arabien, um dort als Hausangestellte Geld zu verdienen. Ihre anderen Kinder ließ sie alleine in Eritrea zurück. Sie wurde versklavt. Den Pass nahm man ihr ab. 5000 Dollar müsste sie bezahlen, um ihn zurück zu bekommen. Sie arbeitet rund um die Uhr, Geld bekommt sie kaum. Ohne Pass kann sie nicht zurück zu ihren Kindern.
Während die Familien ums Überleben kämpften, wurden die Jungen auf die berüchtigten Boote gebracht. Meist unter Deck, ohne Licht, ohne Luft, ohne Toilette. Kaum Platz zum Sitzen; zum Atmen. Die Boote liefen voll Wasser, Menschen fielen über Bord und starben. Natus Boot kreiste tagelang um Lampedusa ohne anlegen zu dürfen, Sami wurde von den Abgasen des Motors ohnmächtig.
Und dann waren sie endlich hier. Meharis Ellbogen in Libyen zertrümmert, an Samis Beinen offene Folterwunden, die über Monate nicht heilen wollten. Verängstigt, traumatisiert und misstrauisch gegenüber allen Menschen. Alleine in einer völlig fremden Welt. Sie wussten nicht wo sie waren. Sie wussten nicht, dass man in Deutschland Deutsch und nicht Englisch spricht. Von einem Leben ohne fließend Wasser und Strom, in ein Leben mit Smartphones, Computern, Spülmaschinen und Navigationsgeräten. In Sicherheit aber so unendlich einsam. Verloren.
Sie saßen immer in einem Eckchen des riesigen Schlafsaals ihrer provisorischen Erstaufnahmeeinrichtung. Dorthin war ich eines Nachmittags zum Klamotten sortieren gekommen. Zwei Wochen später war ich weitestgehend für das Camp verantwortlich. Mehr als ein Fulltime-Job. Ehrenamtlich. Die Jungen sprachen kaum, nur nicht auffallen unter den 200 Mitbewohnern. In einer ruhigen Minute haben wir uns angefreundet. Irgendwie. Sie erzählten, dass sie seit Monaten, sogar Jahren keinen Kontakt mehr mit ihren Eltern hatten. Wir kauften einfache Handys, Guthaben und lotsten die Buben in unser Büro. Es war möglicherweise der emotionalste Moment meines bisherigen Lebens, diese Minuten, in denen Jugendliche nach langer Zeit ihre Mütter wieder hören und ihren besorgten Familien mitteilen konnten, dass sie noch leben; dass sie angekommen sind.
Seither sind wir zu einer großen, turbulenten und chaotischen Ersatzfamilie zusammengewachsen. Die Jungs, die der ganzen Welt misstrauten, beschlossen irgendwann, mir eine Chance zu geben. Noch einmal zu versuchen jemandem zu vertrauen. Es war ein schmerzhafter und langer Prozess. Nun haben sie ihr Leben in meine Hände gelegt. Eine Verantwortung, die Angst macht, wenn man zu viel darüber nachdenkt. Manchmal frage ich mich, warum gerade ich und warum dann gleich so viele Buben. Zehn. Das ist der Wahnsinn. Sie zu trennen wäre aber genauso wahnsinnig. Wir schaffen das schon.
Statt ums Reisen und die Welt entdecken dreht sich meinen Leben seit einem Jahr nun um ganz andere Dinge. Formulare, Kontakte zu Ämtern, Briefe, Anträge, Sachbearbeiter. Ich sitze an Krankenbetten, in Notaufnahmen und Krankenhäusern. Suche passende Ärzte, verwalte die Medikamentenliste eines todkranken Teenagers. Ich treibe fehlende Kleidung auf, sortiere mit den Jungs Kleiderschränke aus, zeige wie man putzt oder eine Waschmaschine bedient. Organisiere Deutschkurse und habe nach langem Kampf alle zehn Buben in einer wunderbaren Schule untergebracht. Nun geht es um Lehrergespräche, Hausaufgaben, Zusammenarbeit mit den Sozialarbeitern, Klasseneinteilung und klingelnde Handys im Unterricht. Wir suchen nach Begabungen und Leidenschaften, möglichen Hobbys, Musikunterricht, Kung Fu und ganz viel Fußball.
Aber es sind nicht nur praktische Dinge wie Zahnärzte und Schreiben lernen. Es gilt, ganz viele Emotionen gemeinsam zu meistern. Ich bin dabei, wenn manche der Jungen ihre Familien anrufen, weil sie das aus Angst vor schlechten Nachrichten nicht immer alleine schaffen. Es gilt, Gefühle gemeinsam auszuhalten, mit Angst, Trauer, Wut und Verzweiflung umzugehen. Manchmal verbringen wir eine Nacht sitzend auf dem kalten Bahnhofsboden, bis ein Junge wieder bereit ist, dem Leben noch einmal eine Chance zu geben.
Was ist schon verlorener Schlaf, gegen verlorene Hoffnung?
Und es gilt immer und immer wieder zu stärken, Mut zu machen, Selbstvertrauen aufzubauen, zu ermuntern, zu motivieren und ganz, ganz viel zu loben. Damit Natu, Sami, Yonas, Awet, Meron, Salman, Adil, Filimon, Efrem und Mehari wieder an sich glauben können. An sich und an das Leben.

Comments